Samstag, 22. Oktober 2011

Estudiando a tiempo parcial

Teilzeitstudium
Nach drei Monaten in Chile merke ich langsam, wie sich mein Aufenthalt hier dem Ende zuneigt. Noch einen Monat Vorlesungen, dann ist der Ernst des Lebens auch wieder vorbei und die Reisezeit kann beginnen! Allerdings hat sich das Studieren nicht als immer einfach herausgestellt und besonders die Streiks machen uns das Leben und Lernen schwer. Nachdem unsere Uni ja für drei Wochen komplett bestreikt wurde, hat sich die Situation bei uns wieder entspannt und wir haben grundsätzlich Vorlesungen.
Allerdings wird alle 1-2 Wochen immer mal wieder für einen oder zwei Tage zum Streik aufgerufen - dies jedoch weniger aus Protest gegen die Studienbedingungen, sondern vielmehr, um so dann und wann mal eine Pause zwischen den Klausuren zu haben, die nun Schlag auf Schlag kommen. Doch weshalb und wogegen wird in Chile überhaupt gestreikt? Darum soll es in diesem Artikel gehen, dazu kommen Bilder aus dem täglichen Leben.
Das versmogte Santiago, im Hintergrund die verschneiten Anden.

In diesem Land zur Universität zu gehen ist ein Luxus. Ein Semester an meiner Uni kostet beispielsweise für einen Einheimischen umgerechnet bis zu 5000 Euro. Viel Geld in Deutschland - sehr viel Geld in Chile, wo der Mindestlohn für 45 Wochenstunden Arbeit bei 250 Euro liegt. Die monatlichen Raten sind also doppelt so hoch wie der Mindestlohn, und die Santa María, wie meine Uni kurz für Universidad Técnica Federico Santa María genannt wird, liegt dabei noch im Mittelfeld. Andere Universitäten verlangen zum Teil doppelt so viel und bereiten so vielen Studenten schlaflose Nächte, wie sie ihr Studium finanzieren sollen.
Der Staat hält sich dabei aus der Bildung weitgehend heraus. Im Gegensatz zu Deutschland, wo Schulen und Universitäten grundsätzlich kostenlos sind, wird der Bildungsauftrag daher zu großen Teilen vom privaten Sektor übernommen. Und da geht das Drama los: in der chilenischen Verfassung steht, dass die involvierten Unternehmen nicht profitorientiert sein dürfen. Den klugen Unternehmer stört diese Bedingung allerdings nicht: er gründet einfach eine weitere Firma, der dann beispielsweise das Grundstück gehört, auf dem die Uni steht. Diese Firma darf natürlich lucro ("Gewinn") machen, indem das Grundstück an die Uni teuer vermietet wird... ¿cachái? (typisch chilenischer Ausdruck: "Verstanden?")
Einer der allgegenwärtigen Straßenhunde. Nur wenige Betonplatten der Fußwege haben keine Pfotenabdrücke.

Vor etwa einem halben Jahr haben die Studenten dann die Nase voll gehabt und sind gegen diese Missachtung geltenden Rechts auf die Straße gegangen. Der konservative chilenische Präsident Sebastián Piñera - euch vielleicht für diesen Fauxpas bekannt - ist jedoch in keinster Weise auf die Demonstranten eingegangen, sondern meinte nur flapsig, es sei halt nichts im Leben umsonst.
Jede Woche gibt es Demonstrationen in der Stadt, zu denen mehrere Tausend Studenten erscheinen! Zu den Studenten gesellen sich jedoch auch immer wieder Krawallmacher, die Busse anzünden und die Polizei mit Steinen bewerfen, woraufhin Wasserwerfer und Tränengas-Sprühfahrzeuge eingesetzt werden - so schnell wird das Problem nicht zu lösen sein. Die Situation ist festgefahren, und wir können uns glücklich schätzen, dass bei uns nicht dauerhaft gestreikt wird.
Ein Tag mit wenig Smog, sodass der Cerro San Cristóbal gut erkennbar ist, von dem die virgen  ("Jungfrau") die Stadt überblickt.
Unsere Uni hat noch zwei weitere Campus (Mehrzahl mit langem U), von denen der eine en toma ("eingenommen") ist und der andere "nur" bestreikt wird. Allerdings haben die Studenten den Campus an diesem Mittwoch und Freitag jeweils für eine Stunde eingenommen, woraufhin der Rektor den Campus ebenso prompt von der Polizei räumen ließ. Ihr seht - auch, wenn wir wieder studieren, sind wir noch nicht über den Berg!
Ich persönlich kann die Studenten verstehen, weil die Studiengebühren echt teuer sind - mein Mitbewohner Gerardo zahlt beispielsweise seinen Kredit mit 1000 Euro monatlich ab, fünf Jahre lang! Auf der anderen Seite ist nun einmal nichts umsonst - da hat Señor El Presidente ("der Präsident") schon Recht - und als ich einmal den Chilenen erzählte, wie hoch in Deutschland der Spitzensteuersatz ist, fielen diese fast vom Glauben ab. Im Endeffekt gibt der deutsche Staat mir ja auch theoretisch einen Kredit, indem er mir die Uni finanziert, und ich zahle diesen später als Akademiker mit einem hoffentlich höheren Einkommen auch mit höheren Steuern zurück. Ist das günstiger? Wohl kaum. Ist es sozial gerechter? Auf jeden Fall!
Ein toller Frühlingstag in Santiago mit 30°C. In der Mitte sieht man den höchsten Turm Südamerikas, das sich noch in Bau befindende Costanera Center.

Ich weiß nicht, ob das deutsche Modell im liberalisierten Chile funktionieren würde. Würden die Studenten im Gegenzug für ein kostenloses Studium Steuersätze von 40% und mehr zahlen? Ich bin mir nicht sicher. Außerdem besteht das Problem ja nicht erst seit gestern, sondern der lucro wurde über Jahrzehnte hinweg von links orientierten Regierungen geduldet. Nun ist zum ersten Mal seit der Diktatur unter Augusto Pinochet eine konservative Regierung an der Macht, der jetzt alles in die Schuhe geschoben wird. Wird da vielleicht nur ein Sündenbock gesucht?
Aber wie gesagt sind wir fleißig am Lernen. An unserem Campus im Viertel Vitacura studieren wir jeden* Montag, Mittwoch und Freitag (*Ausnahmen: Reisen, Feiertage, Streik, Prof kommt nicht mit Ankündigung, Prof kommt nicht ohne Ankündigung ... ein passioniertes Déjà-vu!). Vitacura ist wohl das reichste Viertel in ganz Chile. Beim Joggen durch die Nachbarschaft, in der die Häuser hinter drei Meter hohen Betonmauern stehen - tolles Leben - erspäht man so dann und wann einen privaten Fußballplatz oder einen Ferrari. Die Studenten an unserem Campus kommen zu einem großen Teil aus der Gegend und somit haben sie - also ihre Eltern - die notwendige plata ("Silber" - so wie wir Kohle sagen), also gibt es für sie keinen Grund zu streiken, wenn man mal von dem Wunsch nach ein paar freien Tagen absieht.
Ein Blick vom Cerro San Cristóbal auf mein Hochhaus, das Gebäude oben links mit der vertikalen ockerfarbenen Fensterreihe.

Nichtsdestotrotz wussten wir während des dreiwöchigen Streiks im September nicht, wie lange dieser andauern würde, und hatten uns so direkt mit den Professoren in Verbindung gesetzt. Da die Studenten zahlen und die Professoren bezahlt werden, egal ob gestreikt wird oder nicht, war ein Großteil der Professoren dazu bereit, mit uns mit dem Stoff privat weiterzumachen und bereits Klausuren zu schreiben im Hinblick auf Besuche aus Deutschland und unsere Reisepläne im November und Dezember. So viel Flexibilität hätte man in Deutschland nie erwarten können, und ich bin den Professoren sehr dankbar dafür!
Erwähnenswert ist, dass Uni in Chile so wie Schule in Deutschland ist. In jedem Fach werden während des Semesters 2-4 Klausuren geschrieben, und hinzu kommen viele Tests und Hausaufgaben. Während man in einigen Fächern wie Administración de Empresas ("BWL") oder Recursos Humanos ("Psychologie") eine ganze Menge Fachbegriffe auswendig lernen muss - Beispielfrage: Wie lauten die sechs Eigenschaften eines guten Anführers? - lernen wir in Programación ("Informatik") das Programm Python kennen, was echt Spaß macht. In Aerodinámica ("Aerodynamik") leiten wir viele Formeln her und beschreiben den Einfluss von Flügelformen und Gewichtsverteilung, und in Electrotécnia ("Elektrotechnik") - dem wahrscheinlich schwersten Fach - berechnen wir komplexe Wechselströme.
Die chilenische Nationalflagge vor scheinbar diesiger Luft, die tatsächlich aber einfach nur dreckig ist.

Durch unser frühzeitiges Bemühen, den ursprünglichen Zeitplan einzuhalten, sind wir tatsächlich mit allen Klausuren (bis auf eine) am 19. November fertig, und müssen dann am 30. November noch einmal antanzen, bevor wir endgültig unsere viermonatigen Semesterferien genießen können.
Ich hoffe, euch hat der Einblick in die chilenische Studienwelt gefallen. Falls noch Fragen offen sind, dann stehe ich euch gerne in den Kommentaren Rede und Antwort.

Euer Lars

2 Kommentare:

  1. Dank dir für die tolle Info.
    Gruß, UV

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  2. Es ist immer wieder interessant zu erfahren, wie in anderen Ländern versucht wird Bildung vom "gemeinen Volk" fernzuhalten.
    Wobei in all diesen Ländern das Schlupfloch - in Deutschland kostenlos zu studieren - aber auch nur von Kindern aus Familien mit Vermögen oder/ und Beziehungen genutzt werden kann.
    Aber hatte nicht Europa auch so eine Zeit? Erst mit der Einführung des BAföG http://de.wikipedia.org/wiki/Bundesausbildungsförderungsgesetz
    gab es Chancen für alle.
    Toller Artikel mit Hinweisen auch einmal wieder auf die eigene Geschichte zu schauen.
    Interessierte Grüße nach Santiago
    LiCo

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